Zum Nachdenken

Kardinal Sarah über Papst Benedikt XVI

Der Nachfahre des heiligen Augustinus

Viele Würdigungen unterstreichen die Größe von Benedikt XVI. als Theologe. Daran gibt es keinen Zweifel. Sein Werk wird fortbestehen. Aber seine Größe liegt nicht in erster Linie in der akademischen Durchdringung der Begriffe theologischer Wissenschaft, sondern in der Tiefe seiner Betrachtung der göttlichen Wirklichkeit.

Benedikt XVI. hatte die Gabe, uns durch seine Worte Gott sehend zu machen, uns die Gegenwart Gottes schmecken zu lassen. Ich glaube, ich kann sagen, daß jede seiner Predigten, die ich gehört habe, eine echte geistliche Erfahrung war, die meine Seele entscheidend mitgeprägt hat. Darin ist er ein echter Nachfahre des heiligen Augustinus, dem er sich im Geiste so nahe fühlte.

„Gott in dieser Welt gegenwärtig machen“

Seine Stimme, brüchig und warm zugleich, ließ uns die theologische Erfahrung spüren, die er selbst gemacht hatte. Er hat uns in die Tiefe des Herzens und in die Gegenwart Gottes geführt. Hören wir ihm zu: „In unserer Zeit, in der der Glaube in weiten Teilen der Welt wie eine Flamme, die keine Nahrung mehr findet, zu erlöschen droht, geht es vor allem darum, Gott gegenwärtig zu machen und den Menschen den Zugang zu Gott zu eröffnen. Nicht zu irgendeinem Gott, sondern zum Gott, der am Sinai gesprochen hat, zum Gott, dessen Antlitz wir in der bis zum Äußersten getriebenen Liebe in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, erkennen.“

Benedikt XVI. war kein starrer Ideologe. Er war in die Wahrheit verliebt, die für ihn nichts Abstraktes war, sondern eine Person, der er begegnete und die er liebt: Jesus, der Mensch gewordene Gott. Erinnern wir uns an sein meisterhaftes Bekenntnis: „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt“.

Benedikt XVI. hat uns angeleitet, diese Begegnung des Glaubens mit Jesus Christus zu leben. Wo immer er hinkam, entzündete er diese Flamme in den Herzen. Bei Jugendlichen, Seminaristen, Priestern, Staatsoberhäuptern, Armen und Kranken hat er mit Kraft und Einfühlsamkeit die Freude am Glauben neu entfacht. Er hat sich selbst zurückgenommen, um das Feuer, das er in sich trug, heller leuchten zu lassen … Er hat uns stets daran erinnert, daß die Begegnung mit Christus weder der Vernunft noch der Freiheit widerspricht. „Christus nimmt nichts weg, sondern gibt alles“.

Konfrontiert mit dem Imperium der Lügen

Manchmal war er allein, wie ein Kind, das der Welt verlassen gegenübersteht. Ein Prophet der Wahrheit, die Christus ist, im Angesicht der Übermacht der Lüge; ein zerbrechlicher Bote im Angesicht berechnender und eigennütziger Mächte. Gegenüber dem riesigen Goliath des dogmatischen Relativismus und der allmächtigen Konsumgesellschaft hatte er keine andere Waffe als sein Wort.

Dieser David der Neuzeit wagte zu rufen: „Die Sehnsucht nach der Wahrheit gehört zum Wesen des Menschen, und die ganze Schöpfung ist eine unermessliche Einladung, die Antworten zu suchen, die die menschliche Vernunft für die große Antwort öffnet, die sie immer gesucht und auf die sie gewartet hat: Die Wahrheit der christlichen Offenbarung, die sich in Jesus von Nazareth manifestiert, ermöglicht es jedem, das ‚Geheimnis‘ seines eigenen Lebens anzunehmen. Als höchste Wahrheit respektiert sie die Autonomie des Geschöpfes und seine Freiheit und verpflichtet es gleichzeitig, sich der Transzendenz zu öffnen. Hier erreichte die Beziehung zwischen Freiheit und Wahrheit ihren Höhepunkt und das Wort des Herrn wird voll und ganz verstanden: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“.

Eine „unerträgliche“ Botschaft für die Welt

Aber die Lüge und den billigen Kompromiss duldete er nicht. Sowohl außerhalb der Kirche, als auch innerhalb der Kirche, gab es Menschen, die die Beherrschung verloren. Seine Vorschläge wurden karikiert, verzerrt und lächerlich gemacht. Die Welt wollte ihn zum Schweigen bringen, weil seine Botschaft unerträglich war. Ja, sie wollten ihn zum Schweigen bringen.

Benedikt XVI. hat in unserer Zeit die Gestalt der Päpste der Antike wiederauferstehen lassen, Märtyrer, die vom sterbenden Römischen Reich vernichtet wurden. Die Welt, wie einst Rom, zitterte vor diesem alten Mann mit dem Herzen eines Kindes. Die Welt war zu sehr der Lüge verpflichtet, als daß sie es gewagt hätte, auf die Stimme ihres Gewissens zu hören. Benedikt XVI. war ein Märtyrer für die Wahrheit, für Christus. Verrat, Unehrlichkeit, Sarkasmus – nichts blieb ihm erspart. Er hat das Geheimnis der Ungerechtigkeit bis zum Ende gelebt.

Wie ein Vater

Dann sahen wir, wie dieser so diskrete und edle Mensch seine Seele als Hirte und Vater voll entfaltete.

Wer erinnert sich nicht an den Abend, an dem er, nachdem er Priester aus aller Welt auf dem Petersplatz versammelt hatte, mit ihnen weinte, lachte und ihnen die Intimität seines priesterlichen Herzens eröffnete? Viele junge Männer verdanken ihm ihre priesterliche oder religiöse Berufung. Benedikt XVI. strahlte wie ein Vater unter seinen Kindern, wenn er von Priestern und Seminaristen umgeben war.

Bis zum Schluß wollte er sie unterstützen und aus der Tiefe seines Herzens ihnen zurufen, Christus in der Selbsthingabe und sogar im Leiden für andere zu folgen … „Christus, der für uns alle leidet, hat dem Leiden einen neuen Sinn gegeben, hat es in eine neue Dimension, in eine andere Ordnung eingeführt: die Ordnung der Liebe“.

Benedikt XVI. liebte die Familien und die Kranken. Um das zu verstehen, muß man ihn mit kranken Kindern erlebt haben. Man muß gesehen haben, wie er jedem von ihnen ein Geschenk überreicht hat. Man muß die kleinen Tränen der Rührung gesehen haben, die auf seinem freundlichen Gesicht glänzten.

Ihm verdanken wir die Klarheit der Kirche in Bezug auf die Pädophilie, das sollten wir nicht vergessen. Er verstand es, die Sünde beim Namen zu nennen, die Opfer kennenzulernen, ihnen zuzuhören und die Schuldigen ohne die Mitschuld zu bestrafen, die sich manchmal als Barmherzigkeit tarnt.

In Gebet und Stille

Trotzdem oder vielleicht gerade wegen dieser Wahrheitsliebe wurde er zunehmend angefeindet. Dann wurde der Prophet, der Märtyrer, der gute Vater ein Meister des Gebets. Ich kann jenen Abend in Madrid nicht vergessen, als er vor mehr als einer Million begeisterter junger Menschen auf die von ihm vorbereitete Rede verzichtete, um sie einzuladen, in Stille mit ihm zu beten. Man mußte diese jungen Menschen aus aller Welt sehen, die schweigend hinter dem knieten, der ihnen den Weg gezeigt hatte.

In dieser Nacht brachte er mit seinem stillen Gebet eine neue Generation junger Christen hervor: „Nur sie (die Anbetung) macht uns wirklich frei, nur sie gibt uns die Kriterien für unser Handeln. Gerade in einer Welt, in der die Orientierungskriterien allmählich verloren gehen und die Gefahr besteht, daß jeder zu seinem eigenen Kriterium wird, ist es unerlässlich, die Anbetung zu betonen!“

Daher sein Beharren auf der Bedeutung der Liturgie. Er wußte, daß die Kirche in der Liturgie Gott von Angesicht zu Angesicht begegnet … Dann sahen wir, wie der diskrete Mann seine Seele als Hirte und Vater voll entfaltete. Er wiederholte oft, daß die Krise der Kirche im Wesentlichen eine liturgische Krise sei, d.h. ein Verlust für den eigentlichen Sinn des Gottesdienstes. „Das Geheimnis ist das Herz, aus dem wir unsere Kraft schöpfen“, sagte er immer wieder. Er setzte sich dafür ein, den Christen eine Liturgie zurückzugeben, die, wie er sagte, „ein wahrer Dialog des Sohnes mit dem Vater“ ist.

Angesichts einer Welt, die für die Wahrheit taub ist, angesichts einer kirchlichen Institution, die sich zuweilen weigerte, auf seinen Ruf zu hören, entschied sich Benedikt XVI. schließlich für das Schweigen als seine letzte Predigt.

Als er sein Amt niederlegte und sich zum Gebet zurückzog, erinnerte er alle daran, daß „wir Männer brauchen, die Gott ins Gesicht schauen und von ihm lernen, was wahre Menschlichkeit ist. Wir brauchen Menschen, deren Verstand vom Licht Gottes erleuchtet ist und deren Herzen sich Gott öffnen, damit ihr Verstand zum Verstand der anderen sprechen kann und ihre Herzen die Herzen der anderen öffnen können“.

Ohne es zu wissen, zeichnete der Papst sein eigenes Porträt und fügte hinzu: „Nur von den Heiligen, nur von Gott kommt die wahre Revolution, die entscheidende Veränderung in der Welt“.

War Benedikt XVI. das letzte Licht der christlichen Zivilisation, der Sonnenuntergang einer vergangenen Ära?

Einige würden das gerne glauben. Es ist wahr, daß wir uns ohne ihn verwaist fühlen, ohne diesen Stern, der uns geführt hat. Aber jetzt ist sein Licht in uns.

Benedikt XVI. ist durch seine Lehre und sein Beispiel zum Kirchenvater des dritten Jahrtausends geworden.

Sein frohes und friedliches Licht des Glaubens wird uns noch lange Zeit erleuchten.

(Quelle: Zuerst erschienen in der französischen Zeitschrift „La Nef“, Februar 2023; Fatima ruft 1/2023 Nr. 260,)

 

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